Was schulden Kindern ihren Eltern?

Bei einer Familienaufstellung kommt es häufig vor, dass man das Kind zu einem Elternteil sagen lässt: «Ich verdanke dir mein Leben. Ohne dich wäre ich nicht.» Das ist eine ebenso offensichtliche wie profunde Wahrheit – ohne unsere Eltern wären wir nicht. Aber ergibt sich daraus eine «Schuld» der Kinder? Sind wir unseren Eltern wirklich etwas schuldig?

Für mich gibt es zwei Antworten.

  1. Ja, Kinder verdanken ihren Eltern etwas: nämlich ihr Leben. Und das ist das Wichtigste überhaupt; wichtiger als alles andere. Selbst wenn es in der Kindheit Missbräuche, Misshandlungen und Vernachlässigungen gegeben hat.
  2. Nein, aus der Tatsache, dass Kinder ihren Eltern das Leben verdanken, lässt sich keine «Schuld» ableiten. Kinder müssen ihren Eltern nichts zurückgeben und sie müssen auch nichts ausgleichen.

Beide Antworten sind für sich allein schon irritierend. Diese Irritation nimmt noch zu, wenn man die beiden Aussagen zusammen fasst. Aus diesem Grund gehe ich etwas näher darauf ein.

Ein Kind verdankt seinen Eltern das Leben

Das Wort «verdanken» enthält einen Dank. Bert Hellinger, der Begründer des Familienstellens, hat Kinder bei den ersten Aufstellungen aufgefordert, sich vor ihren Eltern zu verneigen. Und zwar besonders dann, wenn das Eltern-Kind-Verhältnis durch besondere Vorkommnisse wie Missbrauch oder Vernachlässigung belastet war. Das hat mitunter für Empörung gesorgt: Wie kann man es wagen, ein missbrauchtes Kind aufzufordern, sich vor dem missbrauchenden Elternteil zu verneigen?

Für mich ist die Empörung nachvollziehbar. Aber die Empörung übersieht einen wesentlichen Punkt: Bei der Intervention ging es nicht darum, die Eltern «reinzuwaschen». Es geht überhaupt nicht um die Eltern. Es geht um das Kind. Und die Frage: «Was macht es in der Seele des Kindes, wenn es das Leben, so wie es von den Eltern zu ihm gekommen ist, ablehnt? Wie kann es dann noch zu einem eigenen, erfüllten und glücklichen Leben kommen? Wie kann es trotz allem ja zum Leben sagen?»

Verneigen ist sinnvoll

Der Sinn des Verneigens lag darin, zwei Dinge zu trennen: das Geschenk des Lebens auf der einen Seite. Und die konkreten Umstände, wie auch immer sie gewesen sein mögen, auf der anderen Seite. Dazu gehört auch die Schuld, die Eltern zum Beispiel durch Missbrauch und Vernachlässigung auf sich genommen haben. Der erste Teil, das Verdanken des Lebens, hat mehr Gewicht. Dieses Gewicht wird nicht kleiner, wenn die Eltern oder ein Elternteil am Kind schuldig geworden ist. Nur mit der Anerkennung beider Tatsachen findet das Kind zu einem eigenen, erfolgreichen Leben.

Der Fokus liegt also auf dem Wohlergehen der Nachgeborenen. Dazu müssen die Nachgeborenen das eigene Leben annehmen. Und zwar so, wie es durch die Vorfahren zu ihnen gekommen ist. Die Kunst besteht demzufolge darin, das Geschenk des Lebens vorbehaltlos anzunehmen. Auch wenn die Begleitumstände dieses Geschenk möglicherweise «vergiftet» haben. Eine solche Einstellung ist nicht leicht zu erlangen. Besonders, wenn die Umstände schwierig waren. Aber: Haben wir überhaupt eine andere Möglichkeit?

Das Kind schuldet keinen Ausgleich

Viele Menschen, die etwas bekommen, reagieren mit einem Reflex: Sie haben das Gefühl, dass sie etwas zurückgeben oder zurückschenken müssen. Sonst haben Sie das Gefühl, der anderen Person etwas zu schulden. Eine Schuld, die nicht ausgeglichen wird oder nicht ausgeglichen werden kann, gefährdet die Beziehung. In der Regel hält sie dann nicht mehr lange. Beim Eltern-Kind-Verhältnis verhält es sich anders: Die Kinder bekommen von ihren Eltern das Leben geschenkt. Dieses Geschenk kann nicht ausgeglichen werden.

Wie sollte das auch gehen? Wie will man Leben an die Eltern zurückgeben? Allein schon der Gedanke ist absurd! Die angemessene Haltung von Kindern (und wir bleiben ein Leben lang die Kinder unserer Eltern) ist deshalb: Ich nehme das Leben an, so wie ich es erhalten habe. Ohne Abstriche. Und ich mache etwas daraus! Im günstigsten Fall gebe ich das Geschenk des Lebens an meine eigenen Kinder weiter. So kommt es zum Ausgleich. Und nicht dadurch, dass ich das, was ich erhalten habe, in gleicher oder ähnlicher Form zurückgebe. Sondern, in dem ich es weitergebe.

Die Pflege von Eltern im Alter

Die Eltern-Kind-Beziehung unterscheidet sich fundamental von allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen. Eine Freundlichkeit, die ich von jemanden erhalte, kann ich mit einer Freundlichkeit beantworten. Aber beim Leben selber ist ein solcher Ausgleich nicht möglich. Dazu ist das, was ich als Kind von meinen Eltern erhalten habe, zu gross. Ich ehre dieses Geschenk am besten, in dem ich etwas daraus mache und es weitergebe.

Manchmal stellt sich die Frage nach einem Ausgleich noch viel konkreter. Nämlich dann, wenn es um die Pflege der Eltern im Alter geht. Bei vielen Menschen kommt in dieser Situation das Bedürfnis nach einem Ausgleich auf: Sie nehmen die Eltern oder einen Elternteil zu sich. Andere haben ein schlechtes Gewissen, weil sie genau das nicht tun.

Die Eltern haben noch mehr getan

Einerseits verdanke ich meinen Eltern das Leben. Am Leben zu sein, im Leben zu sein, überhaupt zu sein. Aber natürlich verdanken die meisten Menschen ihren Eltern noch viel mehr: Tausende von Mahlzeiten, die Eltern für ihre Kinder zubereitet haben. Tausende von Windeln, die Eltern für ihre Kinder gewechselt haben. Tausende von Anschaffungen, die Eltern für Kinder getätigt haben. Ein Dach über dem Kopf. Einen Platz zum Schlafen. Die Fürsorge. Und das Kümmern.

Das Leben selbst kann man nicht ausgleichen, das geht nicht, das ist zu gross. Aber die anderen Dinge, um die sich Eltern gekümmert haben, damit ich heranwachsen kann, sie können in gewisser Weise ausgeglichen werden. Wie in der Kindheit geht es auch im Alter darum, für ein Heim zu sorgen. Für Nahrung. Und für ein Klima der Geborgenheit. Gibt es also doch eine gewisse Verpflichtung der Kinder, den Eltern im Alter etwas „zurückzuzahlen“, die moralisch auch so empfunden wird?

Die Gegenwartsfamilie hat Vorrang

Bezüglich der Ordnung in einem Familiensystem muss noch etwas anderes betrachtet werden: In der Herkunftsfamilie bleiben die Eltern immer Eltern und die Kinder immer Kinder. Die Eltern sind die «Grossen», die Kinder die «Kleinen». Die Eltern waren eben schon vorher da. Und innerhalb eines Familiensystems gibt es eine Grundregel: Das Frühere hat einen gewissen Vorrang vor dem Späteren.

Gleichzeitig gibt es beim Verhältnis zwischen mehreren Familiensystemen die Regel, dass das spätere Familiensystem Vorrang vor dem früheren Familiensystem hat. Diese Regel ist genauso wichtig: Die Sorge für die Gegenwartsfamilie, die eigene Partnerschaft und die eigenen Kinder hat Vorrang vor der Herkunftsfamilie. Warum? Weil nur so das Leben weitergegeben werden kann!

Die jüngere Generation hat Vorrang vor der älteren

Noch einmal: Was schulden Kinder ihren Eltern, wenn es um die Pflege im Alter geht? Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn sich Kinder um ihre Eltern kümmern. Aber: Wenn dieses «Kümmern» zulasten des eigenen Lebensvollzuges und vor allem zulasten der eigenen Gegenwartsfamilie oder der Partnerschaft führt, wäre das auch ein Verstoss gegen die «Ordnungen der Liebe». Im Verhältnis zwischen den Generationen gilt eben auch: Das Leben der jüngeren Generation hat Vorrang vor dem Leben der älteren Generation!

Angemessen ist, zu achten und zu respektieren, was ich von meinen Eltern erhalten habe. Das muss aber nicht zwingend bedeuten, dass ich genau die Form des «Kümmerns», die ich selber erfahren habe, zurückgeben muss. Es kann durchaus sein, dass ich der Achtung der Eltern genügend Rechnung trage, wenn ich als Kind dafür sorge, dass die Eltern ein würdiges Alter mit einer Fremdbetreuung geniessen.

Dominique-Raymond-Rychner-Life-und-Business-Coach-Zuerich

Über den Autor

Dominique Raymond Rychner ist CEO und Partner bei einer international tätigen Wirtschaftsboutique sowie systemischer Transformationscoach. Er ist Vater von zwei Teenagern, glücklich geschieden und bietet Live- oder Online-Coachings, Kurse und Seminare für Männer, Frauen, Paare, Familien und Unternehmen im Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung sowie der Stärkung der Finanzintelligenz an. Er bringt über 25 Jahre Erfahrung in Beratung und Training mit. Das Credo seiner Arbeit lautet: "Lebe moneysmart und beziehungsweise – für ein Leben voller Selbstbestimmung und Freiheit."

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