Aufgestellt. Und dann?

Nach einer Aufstellung taucht bei der Person, welche die Aufstellung initiiert hat, häufig die Frage auf: «Was mache ich jetzt damit?» Die Person möchte das, was sie in der Aufstellung gelernt hat, im Alltag umsetzen. In Seminaren wird das gerne als «Umsetzung von Seminarinhalten in die Praxis» bezeichnet. Nach einer Aufstellung ist das allerdings nicht ganz so einfach wie nach einem Seminar.

Am Ende einer Aufstellung fragt sich die Person, die ihr Anliegen aufstellen liess, manchmal: «Was mache ich jetzt damit?» Oder: «Wie soll ich mich jetzt verhalten?» Oder: «Was kann ich konkret tun?» Ich will diese Frage anhand eines Themas beantworten, das in Aufstellungen häufig vorkommt: Es gibt etwas, das wir in der Aufstellungsarbeit als «ursprüngliche Liebe» bezeichnen. Eine tiefe, geradezu existenzielle Verbundenheit des Kindes zu seinen Eltern.

Häufig ist diese Verbindung gestört: Emotionen können nicht frei fliessen und die natürliche Liebe wird weder von den Eltern noch von den Kindern wahrgenommen. Zum Beispiel, weil ein Elternteil im Leben des Kindes nicht anwesend ist. Oder weil die Eltern wegen ihrer eigenen, traumatischen Belastungen für das Kind seelisch nicht verfügbar sind. Oder weil das Kind aufgrund einer frühen Trennung oder Enttäuschung «zugemacht» hat und die Liebe der Eltern nicht mehr spüren kann.

Energetische Blockaden

Nehmen wir an, diese Blockade sei im Rahmen einer Familienaufstellung sichtbar und einer guten Lösung zugeführt worden. Nehmen wir weiter an, bei dieser Lösung sei die ursprüngliche Liebe zwischen den Eltern und dem Kind wieder in Fluss gekommen. In einer Aufstellung geschieht das in der Regel so, dass sich ein Kind trotz innerer Widerstände auf die Mutter zu bewegt und in ihrer Gegenwart wieder zum Kind wird.

In solchen Situationen kommt es häufig zu einer innigen Umarmung und die ursprüngliche Liebe zwischen der Mutter und dem Kind kann wieder frei fliessen. Die Szene ist sowohl für die Protagonisten als auch für die Zuschauenden sehr bewegend. Taucht im Anschluss an die Aufstellung bei der Person, die «aufstellen» liess, die Frage auf: «Was mache ich nun mit damit?», deutet das auf eine Schwierigkeit und auf ein Missverständnis hin.

Aufstellungen sind stellvertretend

Eine Aufstellung steht symbolisch und stellvertretend für eine andere Situation. Aus diesem Grund lassen sich die Ereignisse nicht so einfach ins «richtige Leben» übertragen. Bleiben wir bei unserer Geschichte und der unterbrochenen Liebe zwischen der Mutter und ihrem Kind. Diese unterbrochene Liebe wird geheilt, weil das Kind in der Aufstellung zur Mutter geht: Eine erwachsene Person geht stellvertretend für das kleine Kind, das immer noch in ihr lebt, zu einer anderen Person, die stellvertretend für die Mutter steht.

Jetzt kann es sein, dass bei der Person, die ihr Anliegen aufgestellt hat, der Eindruck entsteht, das sei alles nur eine «Simulation» gewesen. Eine schöne zwar. Aber am Ende eben doch nur eine Simulation – eine Art, «so tun, als ob». Dementsprechend kann sie sich die Frage stellen: «Was hat das jetzt mit meiner ‘Realität’ zu tun?» «Kann ich das Erlebte von der einen Realitätsebene, die mein analytischer Verstand als ‘Simulation’ abtut, in eine andere Realitätsebene übertragen, die aus meinem gewohnten Alltag besteht? Und wenn ja: Wie?»

Das innere Kind ist real

Was in einer Aufstellung geschieht, ist nur zum Teil symbolisch und stellvertretend. Einerseits ist die Mutter eine fremde Person und nicht die richtige Mutter. Und die Person, die auf die Mutter zugeht, ist nicht drei Jahre alt, sondern vielleicht 53 Jahre. Wird eine Aufstellung innerlich gesammelt vollzogen, geht in diesem Augenblick aber nicht die 53-jährige Frau auf ihre Mutter zu, sondern tatsächlich das dreijährige Kind. Das innere Kind, das in der 53-jährigen Frau lebt, bewegt den Körper! Wenn die Stellvertreterin der Mutter sich wirklich dem «wissenden Feld» überlässt und ihre eigene Persönlichkeit während der Aufstellung zurücknimmt, wird sie während der Aufstellung auf der seelischen Ebene tatsächlich zur Mutter des Kindes.

Bei einer Aufstellung geht es also nicht um ein symbolisches Handeln, wie es bei vielen anderen Interventionsformen geschieht. Würde die aufstellende Person alle Verletzungen und Vorwürfe auf einen Zettel schreiben und diesen Zettel in einem Ritual verbrennen, wäre das eine rein symbolische Handlung (die durchaus tiefgreifende Wirkungen haben kann). Eine Aufstellung geht über die reine Symbolik hinaus: Das innere Kind, das sich zeigen kann und sich für eine gewisse Zeit im Körper der erwachsenen Person ausdrücken darf, ist im höchsten Grad real.

Wirklicher als die Wirklichkeit

Ein sicheres Zeichen dafür, dass die Situation real ist, sind die Gefühle. Wenn die Stellvertreter:innen in einer Aufstellung verschiedene Gefühle zum Ausdruck bringen, spüren die Anwesenden: Das, was hier passiert, ist sehr wirklich – noch wirklicher kann eine Wirklichkeit (also das, was wirkt) gar nicht sein.

Trotzdem bleibt natürlich die Herausforderung, dass die Person, die ein Thema aufstellen lässt, unterschiedliche Erlebnisse hat. Einerseits das Erlebnis aus der Kindheit, in welcher der Fluss der ursprünglichen Liebe verdeckt oder gar verschüttet war. Andererseits das Erlebnis, wenn diese ursprüngliche Liebe wieder ins Fliessen kommt. Das sind zwei sehr unterschiedliche Gefühle und zwei ganz unterschiedliche Arten, in der Welt zu sein. Hier ist tatsächlich eine Integration notwendig.

Erleben in zwei Welten

Wenn eine Person diese beiden Welten erlebt und sich dabei die Frage stellt: «Was kann oder muss ich tun, um das Erlebte von der einen Welt in die andere Welt zu übertragen?», liegt allein schon in der Frage ein Missverständnis. Aus diesem Grund lässt sie sich auch nicht schlüssig beantworten. Die beiden Welten sind nämlich gar nicht getrennt! Es ist eher so, dass durch das Erleben in einer Aufstellung etwas sichtbar wird, was schon immer da war. Es war nur verdeckt und deshalb nicht sichtbar. Nun ist es am Licht.

Die ursprüngliche Liebe zwischen Kindern und ihren Eltern ist letztlich nur ein Ausdruck einer allgemeinen Lebenskraft: Jedes Kind, das auf die Welt kommt, ist wie jeder Grashalm, der spriesst, ein Ausdruck der Liebe des Lebens zu sich selbst. Und das Leben, das hier zum Ausdruck kommt, muss über die Eltern zum Kind gekommen sein. Es geht nicht anders. Aus diesem Grund können wir mit Sicherheit sagen: «Wenn du lebst, muss dieses Leben über deine Eltern zu dir gekommen sein. Nur über sie bist du in der Welt». Und diese Tatsache «beweist» die ursprüngliche Liebe. Wie verschüttet diese Liebe auch immer gewesen sein mag. Nur weil etwas verdeckt ist, heisst das noch lange nicht, dass es nicht da ist oder die ganze Zeit schon da war.

Das Handeln ergibt sich von allein

Die Frage: «Was mache ich jetzt damit?», verlangt nach einem Rat: «Wie soll ich handeln?» Es geht aber bei der Integration, die im Anschluss an eine Aufstellung gefragt ist, weniger ums Handeln und viel mehr ums Sein. Wir könnten auch sagen: Es geht um eine bestimmte innere Haltung. Wenn wir der Erkenntnis vertrauen, dass wir alle Kinder der Liebe sind – auch wenn es oberflächlich manchmal nicht so aussehen mag – ergibt sich das konkrete Handeln in der Regel ganz von allein.

Dominique-Raymond-Rychner-Life-und-Business-Coach-Zuerich

Über den Autor

Dominique Raymond Rychner ist CEO und Partner bei einer international tätigen Wirtschaftsboutique sowie systemischer Transformationscoach. Er ist Vater von zwei Teenagern, glücklich geschieden und bietet Live- oder Online-Coachings, Kurse und Seminare für Männer, Frauen, Paare, Familien und Unternehmen im Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung sowie der Stärkung der Finanzintelligenz an. Er bringt über 25 Jahre Erfahrung in Beratung und Training mit. Das Credo seiner Arbeit lautet: "Lebe moneysmart und beziehungsweise – für ein Leben voller Selbstbestimmung und Freiheit."

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