Wir Menschen sind grundlegend abhängig von Bindungen. Doch wie funktioniert das Zusammenspiel zwischen Bindung und seinem Gegenspieler, der Selbstbehauptung?

Wir Menschen sind soziale Wesen und in dem Sinne auch zu einem grossen Grad abhängig von Bindungen. Besonders deutlich wird dies bei kleinen Kindern. Eines der Grundthemen der Entwicklungspsychologie ist der Aufbau einer stabilen und sicheren Bindung des kleinen Kindes an ein betreuendes Umfeld, in der Regel an das der Eltern.

Als man das Bindungsverhalten bei Kleinkindern erforscht hat, stellte sich heraus, dass eine sichere Bindung das eigenständige Explorationsverhalten des Kindes stark fördert. Mit einer sicheren Bindung ist das Kind in der Lage, seine Umwelt zu erforschen, damit Erfahrungen zu machen und zu lernen um letztendlich immer eigenständiger zu werden.

Bindung und Selbstbehauptung als scheinbar paradoxe Gegenspieler

Diese beiden scheinbar gegensätzlichen Prozesse, die Bindung und die Selbstbehauptung, sind stark miteinander verzahnt. Gerade die stabile, sichere Bindung erlaubt es dem Kind, zunehmend unabhängiger und eigenständiger zu werden und Eigenständigkeit ist immer auch eine Loslösung aus einer Bindung oder doch zumindest eine Relativierung der Bindung. Als Illustration: Was man häufig zum Beispiel auf Kinderspielplätzen beobachten kann, ist eine Bewegung, dass das spielende Kleinkind sich immer mehr im Spiel von der Mutter entfernt, sozusagen seine eigenständige Welt erobert, aber immer wieder mit dem kurzen Rückblick auf etwa die Mutter und der unausgesprochenen Frage: «Ist sie noch da?». Wenn ja, wird der Aktionskreis des Kindes noch weiter von der Mutter entfernt.

Die Loslösung als Voraussetzung für Bindung

Auch in der Gegenrichtung sehen wir das paradoxe Zusammenspiel von Bindung und Selbstbehauptung. Nicht nur erlaubt die sichere Bindung die schrittweise Loslösung in die Eigenständigkeit. Die Eigenständigkeit erlaubt es dann auch wieder, neue und andere Bindungen einzugehen. So dürfen wir uns im Prozess des Erwachsenwerdens von unserem Elternhaus lösen, um so überhaupt frei zu werden für selbst gewählte Bindungen, etwa dem Aufbau einer eigenen Familie.

Die Loslösung aus verletzenden Beziehungen

Aber auch, und vielleicht sogar gerade, wenn die frühkindliche Entwicklung und Bindung nicht besonders günstig verlaufen ist, ist dieses besondere Verwobensein von Bindung und Loslösung aus der Bindung zu beachten. Wenn wir an Menschen denken, die als Kinder misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt wurden, dann ist die vertrauensvolle Bindung kaum möglich. Dasselbe gilt für Kinder, die in einem sehr frühen Alter weggeben werden.

Auch hier ist es für eine gesunde Entwicklung zu einem eigenständigen Menschen wichtig, sich aus dieser, in diesem Fall negativen, Bindung zu lösen. Man könnte jetzt meinen, in einem solchen Fall ist ja keine wirklich tragfähige Bindung entstanden, die zu lösen wäre. Dem ist aber oft nicht so. Die Bindung besteht weiter, oft sogar noch intensiver. Sie lebt in dem betroffenen Menschen als – manchmal sehr vage – empfundene Sehnsucht, nach dem, was gefehlt hat als Kind. Oder sie lebt als Vorwurf gegen die Eltern, auch das ist eine Bindung, gerade auch bei vielleicht sehr berechtigten Vorwürfen. Auch wenn ich vielleicht den Kontakt mit meiner Herkunftsfamilie radikal abgebrochen habe, lebt die Bindung dann noch durch den Vorwurf in meinem Inneren.

Um in die Eigenständigkeit zu kommen, muss diese innere Bindung aus systemischer Sicht gelöst werden. Und auch in der Loslösung gibt es ein zunächst paradox anmutendes Wechselspiel: Um die Bindung zu lösen, muss ich sie zunächst einmal erkennen und anerkennen, vielleicht sogar würdigen. Das schlichte Leugnen der Bindung bewirkt wenig. Erst im Bewusstsein der Bindung kann diese transformiert werden.
In Familienaufstellungen zeigt sich häufig eine kraftvolle Wirkung, wenn jemand vor seinen Eltern (in Form von Stellvertretern) steht und noch einmal – wohlverstanden aus seiner subjektiven Sicht heraus - benennt, was damals, in der Kindheit, vielleicht an Schlimmen erfahren wurde. Dabei geht es nie darum die Eltern herabzusetzen, denn in der Regel haben sie das Beste gegeben, was ihnen möglich war. Sondern es geht darum zu würdigen, dass das innere Kind darunter gelitten hat.

Auf dieser Grundlage kann es dann gelingen, die zweite Seite dieser Medaille zu verinnerlichen, nämlich dass ich meinen Eltern – trotz alledem – das Wichtigste überhaupt verdanke, nämlich mein Leben, egal wie die Umstände auch gewesen sein mögen.

In diesem Wechselspiel sind beide Seiten enthalten, die als fehlend erfahrene sicher Bindung und Annahme, die damals als Kind so dringend gefehlt hat und aber auch die Loslösung von dieser Erfahrung, so dass sie sein kann, was sie ist: Eine Erfahrung in der Vergangenheit, etwas was war, aber jetzt nicht mehr ist.

Was noch bleibt

Wenn wir diese Haltung gewinnen können, dann können wir im Hier und Jetzt als Erwachsene handeln, mit allen Möglichkeiten, die wir als Erwachsene haben und die wir als Kind nicht hatten.

Was aber in vielen Fällen noch bleiben wird, zumindest hin und wieder und in bestimmten Situationen, ist, dass wir uns wieder fühlen wie das verletzte oder vernachlässigte Kind von damals. Dieses innere Kind, ist nicht dadurch verschwunden, dass wir in unserem Erwachsenen-Ich zu einer Einsicht gekommen sind. Dieses innere Kind in uns lebt immer noch in dem Alter und den Emotionen von damals. Was wir hier machen können, ist: Wir kümmern uns als Erwachsene um diesen inneren Kind-Anteil von uns. So liebevoll, zugewandt und so angemessen der jeweiligen Altersstufe dieses inneren Kindes, wie wir es gerade vermögen.

Das innere Kind in uns bekommt jetzt das, was es damals benötigt hätte von uns selbst. Wir nähren das innere Kind sozusagen nach. Denn wenn nicht wir es tun, wenn nicht wir uns gut, zugewandt und wohlwollend begegnen, wer dann? Wir dürfen also dem inneren Kind in uns Raum geben, ihm zuhören, es annehmen. Dies bedeutet, wir dürfen immer, wenn das innere Kind sich meldet, sozusagen doppelt da sein: Einmal als erwachsene Person mit all der Lebenserfahrung, die wir sind, und einmal als das verletzte Kind, das wir auch sind. Und diese beiden Persönlichkeitsanteile gehen in Kontakt miteinander.

"Beeltere" dich selbst - lerne dir selbst das zu geben, was du gerade brauchst

Bindung und Selbstbehauptung sind eng mit einander verwoben. Deren Ausprägung wird oftmals frühkindlich geprägt und bleibt nicht selten ein Leben lang bestehen. Durch die uns selbst zugewandte, liebevolle Anerkennung und Pflege unseres inneren Kindes ermöglichen wir uns als Erwachsene uns selbst gut zu sorgen, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen und ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben zu führen sowie sich liebevoll um die verschiedenen Aspekte unserer Persönlichkeit zu kümmern, um Heilung und Wachstum zu ermöglichen.

Bindung und Autonomie in der systemischer Aufstellungsarbeit

Zusammen mit Monika Gerig veranstalte ich regelmässig Systemische Aufstellungen in Zürich. Möchtest du mehr darüber erfahren, mit einem eigenen Anliegen, als Stellvertreter dabei sein oder eine ganz persönliche Einzelaufstellung buchen, dann findest du mehr Informationen sowie den Buchungslink dazu hier: https://dominique-raymond-rychner-coaching.ch/systemische-aufstellungsarbeit/

Dominique-Raymond-Rychner-Life-und-Business-Coach-Zuerich

Über den Autor

Dominique Raymond Rychner ist CEO und Partner bei einer international tätigen Wirtschaftsboutique sowie systemischer Transformationscoach. Er ist Vater von zwei Teenagern, glücklich geschieden und bietet Live- oder Online-Coachings, Kurse und Seminare für Männer, Frauen, Paare, Familien und Unternehmen im Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung sowie der Stärkung der Finanzintelligenz an. Er bringt über 25 Jahre Erfahrung in Beratung und Training mit. Das Credo seiner Arbeit lautet: "Lebe moneysmart und beziehungsweise – für ein Leben voller Selbstbestimmung und Freiheit."

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