Was kann eine Aufstellung? Und was kann eine Aufstellung nicht?

Eine Frau wollte mit einer Aufstellung herausfinden, wer ihren Schmuck gestohlen hat. Doch das funktioniert nicht. Eine Familienaufstellung kann unbewusste Prozesse erhellen und erstaunliche Synchronizität hervorbringen. Aber sie ist weder ein Lügendetektor noch ein Orakel. In diesem Beitrag zeige ich auf, warum das so ist und wo die Grenzen einer Aufstellung liegen.

Vor einiger Zeit hatte ich ein Erlebnis, das mich unangenehm berührte: Eine Frau erzählte mir, dass sie ein bestimmtes Schmuckstück vermisse. Der immaterielle Wert war noch viel grösser als der materielle. Bei besagtem Schmuckstück handelte es sich nämlich um ein Erbstück. Die Frau verdächtigte ihre portugiesische Reinigungskraft, den Schmuck gestohlen zu haben. Aus diesem Grund initiierte sie eine Aufstellung, um Gewissheit zu erlangen und ihre Reinigungskraft zu überführen.

Ich war schockiert. Zum einen, dass man überhaupt auf die Idee kommen kann, ein solches Anliegen an eine Aufstellung heranzutragen. Zum anderen, dass die Leiterin der Aufstellung das Anliegen nicht rundweg abgelehnt hat. Mein Bauchgefühl sagte mir auf der Stelle, dass die Klärung eines strafrechtlichen Vorwurfs in einer Aufstellung nichts zu suchen hat. Etwas schwieriger war es, diesen Vorwurf zu begründen. Genau das will ich mit diesem Beitrag versuchen.

In einer Familienaufstellung geht es um Bewegungen und Dynamiken

Zunächst einmal geht es in systemischen Familienaufstellungen um Bewegungen, um Dynamiken und um Kräfte im eigenen Familiensystem. Diese Dynamiken haben meist mit Bindungen an Personen zu tun, die uns wichtig sind. Besonders an Personen aus unserem Herkunftssystem. Diese Dynamiken und Kräfte, die über eine Aufstellung sichtbar gemacht werden können, dienen dem Fluss der Liebe zwischen den Beteiligten und der Würdigung aller, die dazu gehören – unabhängig von ihren Taten.

Die Wahrnehmungen der Stellvertreter:innen in einer Aufstellung erweisen sich oftmals als erstaunlich «hellsichtig». Bei meinen Aufstellungen höre ich von den Personen, die «aufstellen lassen» häufig Sätze wie diese: «Ja, genau, in diesem Tonfall hat Tante Emma immer mit mir gesprochen.» Oder: «Das ist exakt die Körperhaltung meiner Grossmutter mütterlicherseits». Solche Erlebnisse kommen immer wieder vor. Das erzeugt bei manchen Menschen die Vorstellung, Aufstellungen seien «Orakel» und man könne in einer Aufstellung Vorgänge sichtbar machen, bei denen man selbst nicht anwesend war. Gemäss meinen Erfahrungen haben Aufstellungen diese Gabe jedoch nicht: Sie erlauben zwar manchmal einen Blick «hinter den Schleier» – aber nur so weit, wie es dem Anliegen und der Heilung des Familiensystems dient.

Ordnung, Zugehörigkeit und Ausgleich

Reden wir von der Dynamik des Herkunftssystems einmal so, wie wenn sie eine Person wäre. Dann steht diese Dynamik dafür ein, dass Personen und ihre Schicksale nicht vergessen gehen. Sie interessiert sich aber nicht für Besitz und Eigentum. Aus diesem Grund interessiert sie sich auch nicht dafür, ob eine bestimmte Person ein Schmuckstück entwendet hat oder nicht. Stattdessen geht sie der Frage nach, welche Beziehung die bestohlene Person zur Erblasserin hatte und was die Erblasserin der bestohlenen Person bedeutet hat. Auf diese und ähnliche Fragen würde man in einer Aufstellung mit Sicherheit eine Antwort oder zumindest einen Hinweis erhalten. Aber nicht auf die Frage, ob sich jemand dieses Schmuckstück angeeignet hat. Und schon gar nicht, wer es war.

Ein anderes Beispiel: Nehmen wir an, eine Ehefrau habe den Verdacht, dass ihr Ehemann eine sexuelle Beziehung zur Nachbarin unterhält. Könnte man so etwas aufstellen? Ja, könnte man. Aber nicht mit dem Ziel, den Verdacht zu erhärten oder gar zu bestätigen. In einer Aufstellung könnte sich eher zeigen, dass die Frau treu zu ihrer Mutter und zu ihrer Grossmutter steht, die beide von ihren Ehemännern betrogen wurden. Das wäre das entscheidende Phänomen, auch Verstrickung genannt. Die Verbindung der Frau zu den Frauen, denen sie ihre Existenz verdankt.

Ich mache es genauso wie du

Diese Verbindung sorgt dafür, dass die Frau (wenn auch völlig unbewusst) innerlich zu sich sagt: «Ich mache es wie du» oder «ich mache es für dich» (bezogen auf ihre Vorfahren). Eine Aufstellung versucht die Frage zu klären, ob die Frau die Tradition unbewusst fortsetzt, in dem sie sich wie ihre Vorgängerinnen einen untreuen Ehemann aussucht. Oder ob die Frau für ihre Mutter handelt, in dem sie die Vorwürfe stellvertretend an ihren Ehemann richtet. Auf solche Fragen kann man in einer Aufstellung durchaus Antworten finden. Aber nicht auf die Frage: «Ist mein Verdacht berechtigt?»

Aus meiner Sicht ist das auch gut so. Aufstellungen können dazu beitragen, dass man sich aus unbewussten Verstrickungen mit seinen Ahnen löst, in dem man diese Schicksale anerkennt und würdigt und somit frei wird für den eigenen Lebensweg. Zu diesem Lebensweg gehört auch, dass die Frau mit ihrem Mann über ihren Verdacht und über ihre Hinweise spricht – mit offenem Ausgang. Das kann und soll eine Aufstellung niemandem abnehmen.

Dominique-Raymond-Rychner-Life-und-Business-Coach-Zuerich

Über den Autor

Dominique Raymond Rychner ist CEO und Partner bei einer international tätigen Wirtschaftsboutique sowie systemischer Transformationscoach. Er ist Vater von zwei Teenagern, glücklich geschieden und bietet Live- oder Online-Coachings, Kurse und Seminare für Männer, Frauen, Paare, Familien und Unternehmen im Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung sowie der Stärkung der Finanzintelligenz an. Er bringt über 25 Jahre Erfahrung in Beratung und Training mit. Das Credo seiner Arbeit lautet: "Lebe moneysmart und beziehungsweise – für ein Leben voller Selbstbestimmung und Freiheit."

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2 Kommentare

  1. Veröffentlicht von Manuel am 27. Juni 2022 um 22:49

    Danke für diesen Beitrag. Ich kann nur beipflichten. Aufstellungen zeigen ein aktuelles Bild und geben eine Richtung an in die der nächste Schritt gehen kann sofern der/die Klient:in den Schritt machen möchte. Ich kann es nur empfehlen auszuprobieren. Und nebenbei: Dominique ist Grossartig!

    • Veröffentlicht von Dominique Rychner am 26. Januar 2023 um 9:40

      Auch dir herzlichen Dank für deinen Kommentar, lieber Manuel. Ich kann dir nur zustimmen. Mit einer einzigen Aufstellung werden nicht alle Probleme des Klienten gelöst. Aber – meist ist ein erster, wichtiger Schritt getan. Auch für Stellvertreter, die dies hautnah miterleben dürfen, eine wertvolle Erfahrung.

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